20101104

Darmstädter STADTBAUGESCHICHTE(N)

Jugendstilensemble
Darmstadt war und ist die Stadt der kreativen Künstler, der politischen Literaten, der stilprägenden Baumeister und der ideenreichen Wissenschaftler. In der Jugendstilstadt Darmstadt ist u.a. der Deutsche Werkbund zu Hause. Hier wurden bahnbrechende Werke im Spannungsbogen zwischen Architektur und Design von Persönlichkeiten wie Alfred Messel, Joseph Maria Olbrich, Peter Behrens und Hermann und Gudrun Zapf geschaffen. Und Darmstadt schrieb mit Georg Büchner Literaturgeschichte.

Brüche im Stadtbild
Persönlichkeiten prägen das positive Bild einer Stadt. Doch Darmstadts Geschichte birgt auch viele Brüche seines Stadtbildes. Darmstadt war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine einzige Trümmerwüste: 99 % der Innenstadt waren zerstört, über 10.000 Menschen wurden im Bombengemetzel getötet. Die Wunden sind bis heute in der Stadt sichtbar. Der Aufbau gelang zügig, aber nicht schön. Die zerstörte Altstadt spielte im Zuge des Wiederaufbaus keine Rolle mehr. Dem modernen Zeitgeist entsprechend wurde die gegliederte und aufgelockerte Stadt zum Leitbild für den Wiederaufbau - ohne dabei auf den städtebaulichen Kontext zu achten. Jedoch begnügten sich die Stadtplaner nicht die zerstörte Innenstadt neu zu bebauen, sondern brachen - in der von Notbauten und Kriegslücken übersehten Stadt - unsinnigerweise auch völlig intakte Altbausubstanz ab. So wurden neben dem östlichen Altstadtteil auch unversehrte Bauten im Carree Schloßgarten-, Lauteschläger- und Pankratiusstraße für moderne Hochschulklötze abgerissen. Selbst der Prinz-Georgs-Garten sollte für TU-Bauten weichen - zum Glück wurde es verhindert. 1955 wurde die Ruine des Neuen Palais abgeräumt - Wiederaufbaupläne scheiterten. 1958 fiel die Marstallruine am Mathildenplatz zugunsten des neuen Justizzentrums und die Kriegsruine Haus Christiansen auf der Mathildenhöhe wurde entfernt. Und noch in den siebziger Jahren wurden die Altbauten am Kopernikusplatz/Heinheimer Straße plattgemacht um Betonwohnbauten zu errichten. So wurde nachhaltig die städtebauliche Geschichte von Darmstadt ausgelöscht. In der Innenstadt entstehen derweil immer mehr moderne Bauten: Am Friedensplatz wird z. B. 1968 das Schlosscafe eröffnet (später Waben).

Affären und spätes Umdenken
Die Stadt- und Baupolitik wurde immer wieder von Affären erschüttert, wie bei der "Mengler-Affäre". Mengler baute mit seinem Bauunternehmen u.a. die Tiefgarage/Atombunker unter dem Friedensplatz (s. dazu Wikipedia-Artikel zu Jakob Wilhelm Mengler). Darüber hinaus sorgte auch die Verkehrspolitik für Schlagzeilen: Im Zuge einer autogerechten Stadt sollten dann in den siebziger Jahren weite Teile des Martinsviertels für eine Schnellstraße ("Osttangente") weichen. Bürgerinitiativen verhinderten zum Glück den Abrisswahnsinn. In dieser Zeit begann allgemein ein leichtes Umdenken - so bekam 1974 Hessen ein Denkmalschutzgesetz. Die Baugeschichte der 70iger Jahre war in Darmstadt indes weiter von Großbauten geprägt - so wurde 1972 das neue Stadttheater eingeweiht und 1975-77, als Abschluss des Luisenplatzes, das Luisencenter gebaut sowie die großspurige Untertunnelung mit dem City-Tunnel (s. Bild von Bauschild). Im Ergebnis ist die halbe City mit Tiefgaragen und Schnellstraßen untertunnelt. 

Einen städtebaulichen Lichtblick gab es erst wieder Mitte der achtziger Jahre: 1984 wurde der alte Pädagog wieder aufgebaut und 1986 wurde das bis dahin nur noch als Ruine stehende Große Haus des Theaters wieder errichtet. Doch ansonsten wurde, obwohl zu der Zeit noch die Steuereinnahmen der Stadt sprudelten, auch in den 80iger Jahren in Darmstadt städtebaulich vieles verschlafen - während andere Städte eine postmoderne Erneuerung erfuhren, bewegte sich in Darmstadt nicht viel. Ein städtebaulicher Glanzpunkt wurde erst mit der im Mai 2000 eröffneten, von Hundertwasser geschaffenen Waldspirale, gesetzt. Ein großes Bauvorhaben wurde 2007 vollendet - das Darmstadtium (s. auch "Der Lotse nimmt Abschied vom Darmstadtium", Echo-Online, 13.12.10). Derweil wurde 2008 eine große Chance gegenüber dem historischen Moller-Bau weitgehend vertan: Ein neugebautes Hotel eröffnete - lieblos modern, mit Flachdach und monotoner Fassadengestaltung. (s. auch "Darmstädter Bausünden",  Echo-Online, 13.10.11). Eine besondere Lokalposse, die auch im Datterich vorkommen könnte, ist der Umbau des Hessischen Landesmuseum. Der Museumsbau wurde für den Umbau von 2007 bis 2014 für rekordverdächtige 7 Jahre komplett geschlossen! 2012 wurde das "Saladin-Eck" abgerissen. 2014 verschwand das stimmungsvolle Kopfsteinpflaster der Hochschulstraße (zwischen Kantplatz und Herrngarten) unter Asphalt. Ein Teil des historischen Holzpflasters ist in einem Schaukasten(!) zu sehen. 2015 gab es dann einen sportlichen Höhepunkt für Darmstadt: Die "Lilien" Darmstadt 98 stiegen sensationell in die 1. Liga auf und spielten zwei Spieljahre in der 1. Liga.. Der kontinuierliche Einwohnerwachstum der Stadt wurde ab 2015 mit dem Zustrom von Bürgerkriegsflüchtlingen weiter verstärkt. 2017 gewinnt Darmstadt den Bitkom-Wettbewerb und wird zur digitalen Stadt gekürt (s.auch https://digitalstadt-darmstadt.de/). 2023 gelingt den Lilien von Darmstadt 98 wieder der Aufstieg in die 1. Liga. Nach den bleiernden Corona-Jahren bewegt sich 2023 noch weiteres in der Stadt: Hanno Benz wird der neue Oberbürgermeister. Das Schloss wird nach über 10 Jahren Sanierung als "Wissenschaftsschloss wieder eröffnet und zum Jahresende schließt der Kaufhof. Zudem kehrt ein historisches Kleinod 2023 an seinem alten Platz in der Albert-Schweitzer-Anlage zurück: Der rekonstruierte Ludwigstempel

Zwiespältige Stadt
Heute bietet das mit Architektur-Fakultäten reich ausgestattete Darmstadt einen zwiespältigen Anblick mit historischen Glanzpunkten und herausragenden Bausünden der Nachkriegszeit und teilweise verwahrlost-ungepflegten Denkmälern und übermäßig graffitibeschmutzten Innenstadt-Vierteln. Dazu kommen städtebauliche Peinlichkeiten wie der Wörnersteg und die gestoppte Darmbach-Offenlegung. Darmstadt hat heute seine schönsten Ecken - Rosenhöhe, Mathildenhöhe, Hundertwasserhaus - außerhalb des Stadtzentrums. Doch selbst die Wiege des Jugendstils auf der Mathildenhöhe (s. Rahmenkonzeption hbk tu) war und ist immer wieder gefährdet. Erst 1976 mit der Ausstellung "Ein Dokument Deutscher Kunst" konnte der Jugendstil in Darmstadt in der Nachkriegszeit wieder an Bedeutung gewinnen. Doch einige Jahrzehnte später sollte ein allzu moderner Museumsneubau - trotz Protesten der Darmstädter Bürger - auf dem Gelände des historischen Jugendstilensembles gebaut werden. Selbst Fachleute waren entsetzt (s. auch Artikel zum Museum Sander: "Ein Fremdkörper in Olbrichs Ensemble", Echo Online, 15.07.10). Kein Wunder, dass sich eine Bürgerinitiative (SOS Mathildenhöhe und später AG Mathilda) zum Schutz der Mathildenhöhe bildete, die schließlich den "modernen Klotz" an der vorgesehenen Stelle 2011 verhinderte. Erst 2013 wurde beschlossen, dass die Mathildenhöhe zukünftig durch ein Bebauungsplan geschützt wird. Ein Skandal, dass bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder ungeniert auf der Mathildenhöhe historischer Bestand abgerissen werden konnte und dafür nicht ensemblegerechte Neubauten errichtet wurden. 2021 schließlich wurde die Mathildenhöhe zum Unesco Welterbe erklärt. 

Vermarktung der Stadtkultur
Darmstadt sollte sich auf seine historischen Wurzeln besinnen und damit Ankerpunkte für den Tourismus schaffen. Die Vermarktung der kulturellen Perlen der Stadt, wie dem Jugendstilbad, lohnt sich übrigens auch für die Wertschöpfung der Stadt (s. dazu Artikel "Kultur bringt Einnahmen in die Stadt", DA Echo, 18.03.11). Denn während z. B. in China im Zuge des Baubooms massenhaft "kulturelle Immobilienprojekte" aus dem Boden gestampft werden, kann Darmstadt auf authentische, kunsthistorisch wertvolle Bauten wie dem Welterbe Mathildenhöhe zurückgreifen, die Einwohner und Besucher gleichsam faszinieren.

>>> Literaturtipp zur Darmstädter Geschichte: "Herrschaft - Architektur - Raum: Festschrift für Ulrich Schütte zum 60. Geburtstag", Lukas Verlag 2008.  

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