Inflation der Wissenschaftsstädte
Doch es gibt ein Problem: Als eine Wissenschaftsstadt sieht sich nicht nur Darmstadt, sondern augenscheinlich nahezu alle mit technischen Fakultäten ausgestatteten Universitätsstädte. Und diese gibt es in Deutschland reichlich. Um sich irgendwie von anderen „wissenschaftsnahen“ Städten in der Standort-Vermarktung abzugrenzen, überschlagen sich deshalb die kommunalen Marketing-Fachleute mit werblichen Superlativen. So sieht sich z. B. die Universitäts-Stadt Aachen, indem 2010 das europäische Wissensparlament tagte, mit seinen 13 Technologiezentren und 40.000 Studierenden als „Heimat der größten Technischen Hochschule Westeuropas“. Karlsruhe, das seine Wissenschaftler im Institut für Technologie (KIT) zusammengeführt hat, spricht vom „größten Forschungszentrum Deutschlands“. Nicht weniger bescheiden ist das mit 27 Forschungseinrichtungen gesegnete Braunschweig, das sich in Europa auf Platz 1 sieht, wenn es um die Investitionen in Forschung und Entwicklung geht.
Einen hochoffiziellen Titel „Wissenschaftsstadt“ führen neben Darmstadt seit 2007 auch die Städte Fürth und Straubing, die diesen Titel vom bayerischen Wissenschaftsminister verliehen bekommen haben. Die Inflation der Bezeichnung „Wissenschaftsstadt“ perfekt macht der Stifterverband der Deutschen Wirtschaft, der seit 2005 jedes Jahr eine „Stadt der Wissenschaft“ kürt: Nach Bremen / Bremerhaven, Dresden, Braunschweig, Jena und Oldenburg durfte sich z.B. Mainz 2011 „Stadt der Wissenschaft“ nennen.
Fehlendes Alleinstellungsmerkmal
Die Liste der Städte, Regionen und Forschungsstandorte, die sich „Wissenschaftsstadt“ nennen ist also endlos. Von einem imageprägenden Alleinstellungsmerkmal im Sinne des Stadtmarketings kann also dementsprechend keine Rede sein. Die Einfallslosigkeit in der Stadtvermarktung mag deshalb auf den ersten Blick überraschen - doch wirklich einzigartige imagebildende Zusatz-Bezeichnungen für eine Stadt zu finden ist beileibe nicht immer einfach: So gibt es auch eine Inflation von Burgen- und Residenzstädten und eine Heerschar von Städten mit maritimen Slogans. Doch es geht auch anders: Frankfurt am Main beispielsweise verzichtet gänzlich auf eine Zusatzbezeichnung. Andere Städte setzen nur temporär, je nach Zielgruppe, ein Slogan für ihre Stadt ein. Eine weitgehend „eindimensionale“ offensive Vermarktung des Titels "Wissenschaftsstadt" wie es das Darmstädter Stadtmarketing betreibt ist eher die Ausnahme. So wirbt z. B. Braunschweig zwar auf seinen Wirtschaftsseiten mit dem Titel "Wissenschaftsstadt", doch wenn es um Braunschweig generell geht, bleibt Braunschweig die traditionell etablierte "Löwenstadt" und nutzt so seine kulturelle Geschichte als prägnantes Stadtsymbol.
Touristen bevorzugen weiche Faktoren
Aus touristischer Sicht ist der Titel „Wissenschaftsstadt“ sowieso eher ungeeignet: Er versprüht keine Emotionen, lässt sich nur schwer im Stadtbild fassen und wird von zu vielen Städten verwendet. Als Zielgruppe des nach Forschungskompetenz klingenden Titels „Wissenschaftsstadt“ kommen am ehesten Investoren, Unternehmen und qualifizierte Arbeitskräfte in Frage. Doch auch bei dieser Zielgruppe zählen vermehrt „weiche Faktoren“ wie die Freizeitqualität, Lebendigkeit und das kreative Potential der Stadt - und diese Faktoren entscheiden letztlich über die Ansiedlung und den Umzug in eine Stadt.
Leider hat sich auch keine umgangssprachliche Bezeichnung für die Wissenschaftsstadt Darmstadt durchgesetzt. Würden Touristen Darmstadt mit seinem „Europäischen Raumflugkontrollzentrum“ z. B. als „Houston von Europa“ sehen, dann bräuchten sich die Stadtväter über kunstvolle Eigenschöpfungen keine Gedanken mehr zu machen. So versteckt sich aber Darmstadt unter dem Titel "Wissenschaftsstadt" hinter einer nivellierten Begrifflichkeit und besitzt damit, um es in der werblichen Fachsprache zu sagen, über „ein unscharfes Markenprofil“. Zusammengefasst gesagt: Durch die inflationäre Verwendung wirkt die Benamung "Wissenschaftsstadt" abgenutzt und eine Abgrenzung zu anderen Wissenschaftsstädten wird so gut wie unmöglich gemacht. Die Stadt bräuchte also unbedingt eine "Wahrnehmungserfrischung", um in der zunehmenden Konkurrenz der Städte auf Dauer bestehen zu können. Die Bewerbung zum UNESCO Weltkulturerbe Mathildenhöhe ist zumindest der erste Schritt in die richtige Richtung.
Unverwechselbare Marke: Jugendstilzentrum Darmstadt
Grundsätzlich sollte eine Marke immer einzigartig und unverwechselbar sein - Darmstadt besitzt mit seinem Jugendstilzentrum Mathildenhöhe über ein attraktives "Label", um das es andere Städte beneiden und das für weltweite Aufmerksamkeit sorgen kann - so schaffte es z. B. eine mit dem Hochzeitsturm bedruckte Mode sogar auf dem Pariser Laufsteg (s. Artikel "Olbrich-Mode ist der letzte Schrei in Paris", DA Echo, 07.03.11). Doch dieses einzigartige Markenattribut, das eine unverwechselbare Identität von Weltrang bilden würde, wird genauso wie die von Hundertwasser in Darmstadt geschaffene "Waldspirale" nur unzureichend für das Stadtmarketing genutzt. Stattdessen möchte Darmstadt wie beschrieben bevorzugt als Wissenschaftsstadt wahrgenommen werden und verpasst damit eine große Chance für seine Vermarktung. Eine andere Stadt in Europa hat die markenbildenden Eigenschaften der einzigartigen Stilepoche Jugendstil indes bereits erkannt: der bei Touristen beliebte Ort Alesund wurde bereits 2003 vom norwegischen Königshaus zum "nationalen Jugendstilzentrum" ernannt und besitzt damit einen unvergleichlichen Titel für seinen Werbeauftritt.
Darmstadt verfügt über eine Vielzahl von attraktiven Attributen, um im weltweiten Wettbewerb der Städte bestehen zu können. Mit der richtigen Strategie kann Darmstadt sich ein unverwechselbares Image mit einer positiven Wirkung für den Tourismus, für die Wirtschaftsansiedlung und für die Anwerbung von Fachkräften aufbauen.
>>> Linktipp zur Thematik der amtlichen Zusatzbezeichnungen für Städte: "Wissenschaft- oder Documenta-Stadt: Amtliche Zusatzbezeichnungen sind möglich, aber nicht gefragt" im FAZ-Net vom 26.12.05. Alle Angaben ohne Gewähr.
Darmstadt verfügt über eine Vielzahl von attraktiven Attributen, um im weltweiten Wettbewerb der Städte bestehen zu können. Mit der richtigen Strategie kann Darmstadt sich ein unverwechselbares Image mit einer positiven Wirkung für den Tourismus, für die Wirtschaftsansiedlung und für die Anwerbung von Fachkräften aufbauen.
>>> Linktipp zur Thematik der amtlichen Zusatzbezeichnungen für Städte: "Wissenschaft- oder Documenta-Stadt: Amtliche Zusatzbezeichnungen sind möglich, aber nicht gefragt" im FAZ-Net vom 26.12.05. Alle Angaben ohne Gewähr.